Eine Chrysantheme verschenken? Die ungeliebte Blume der Franzosen
Kann man einer Französin eine ungeliebte Blume wie die Chrysantheme schenken?
Stellen Sie sich die Szene vor: Eine französische Freundin besucht mich Ende Oktober. Wir spazieren durch Karlsruhe, gehen an blumengeschmückten Schaufenstern vorbei, die von Herbststräußen mit leuchtenden Chrysanthemen strotzen. Sie bleibt abrupt stehen, perplex: "Aber … das sind doch Friedhofsblumen! Wie können sie die so ausstellen? Als Hochzeitsdekoration? Auf den Tischen?"
Für mich ist das normal. Eine schöne Herbstblume unter anderen. Für sie undenkbar.
Diese Reaktion hat mich zum Nachdenken gebracht. Wie kann dieselbe Blume hier den Tod und anderswo die Freude bedeuten? Und im Grunde könnte man eine ungeliebte Blume als Schmuck tragen?
🇫🇷 Frankreich: die Chrysantheme, Gefangene einer Tradition
Die Chrysantheme ist Opfer einer starren Gleichung: Chrysantheme = Allerheiligen = Friedhof = Tod.
Jedes Jahr, Ende Oktober, füllen sich die Gärtnereien mit Millionen goldener, bronzefarbener und weißer Töpfe. Am Wochenende von Allerheiligen erobern sie die Friedhöfe. Goldene Alleen, erleuchtete Gräber.
Diese Tradition, die nach dem Ersten Weltkrieg entstand, ehrt die Toten: 1919 suchte man eine robuste, spätblühende, kälteresistente Blume, um die Gräber der Soldaten zu schmücken. Die Chrysantheme setzte sich durch. Nach und nach verschob sich das Gedenken vom 11. November zu Allerheiligen.
Aber diese „Chrysanthemen-Saison“ ist künstlich. Die Gärtner synchronisieren die Blüte durch Lichtmanipulation, damit alle Pflanzen am 1. November perfekt sind. So wird die Chrysantheme in die Schublade der Trauerblume gesteckt.
🇳🇱 Niederlande: die befreite Chrysantheme
Überqueren wir die Grenze.
In den Niederlanden hat die Chrysantheme nichts Funeräres. Sie symbolisiert Glück, Gesundheit, Aufrichtigkeit. Man schenkt sie ohne Tabu, zu einer Hochzeit oder einem Geburtstag.
In niederländischen Gewächshäusern werden das ganze Jahr über Hunderte von Sorten kultiviert. Ein Strauß weißer, rosa oder lavendelfarbener Chrysanthemen? Elegant, leuchtend, natürlich. Niemand runzelt die Stirn. Die Blume lebt dort frei, einfach.
🇩🇪 Deutschland: die Friedhof-Gärten und Lahr, die Stadt der Chrysanthemen
In Deutschland sind manche Friedhöfe das ganze Jahr über gepflegt und mit Bäumen bepflanzt, mit Rosen, Gräsern, Stauden, wie in einem Stadtpark, wo man sich sammeln oder meditieren kann.

Lahr im Schwarzwald: Das Festival
Jeden Herbst feiert die Stadt Lahr im Schwarzwald die Chrysanthema. Seit 1993 wird die ganze Stadt zur Blumengalerie: Blumensäulen, Pflanzenskulpturen, farbenfrohe Kaskaden. Die Chrysantheme ist dort Kunst und Fest, das Festival dieser ungeliebten Blume wird von vielen Franzosen besucht, da es nur wenige Kilometer vom Elsass entfernt liegt. Man feiert den Herbst in guter Laune.
In Lahr ist die Chrysantheme eindeutig eine Festblume. Eine Kunstblume. Eine Freudensblume.
🇯🇵 Japan: die kaiserliche Chrysantheme
In Japan gilt die Chrysantheme (kiku) als heilige Blume.
Die sechzehnblättrige Blüte ist das Symbol der Kaiserfamilie.
Man findet sie auf dem Thron, auf offiziellen Siegeln, auf Porzellan und auch auf einigen Kimonos.
Jeden Herbst wird sie beim Kiku Matsuri gefeiert.
Sie steht für Langlebigkeit, Freude und Aufrichtigkeit.
Nichts Trauriges also. Die japanische Chrysantheme ist eine Blume des Lebens.
Während meiner Reise nach Japan habe ich Kimonos gesehen, bestickt mit Pfingstrosen, Kirschblüten und Chrysanthemen. Diese Blumen, alle voller Bedeutung, haben mich tief beeindruckt. Auch heute noch inspirieren sie meine Arbeit, manchmal ganz dezent.
Wie bei diesem Bolo Tie mit einer botanischen Rose emailliert, einem Accessoire zwischen Schmuckstück und Krawatte, das ich gerne mit einem Tuch kombiniere, dessen Muster an japanische Stoffe erinnert.
🇨🇳 China: die Blume der Weisen
Seit über 3.000 Jahren kultiviert, symbolisiert die chinesische Chrysantheme Gelassenheit und Weisheit. Man trinkt sie als Aufguss (ju hua cha), malt sie auf Seide, graviert sie auf Porzellan. Sie repräsentiert Widerstandsfähigkeit: die, die blüht, wenn alles andere welkt.
Australien und Mexiko: Andere Welten
In Australien hat die Chrysantheme eine einfache Rolle: Sie ist die Blume des Muttertags. Einmal im Jahr, am zweiten Sonntag im Mai, bekommen australische Mütter Sträuße aus Chrysanthemen geschenkt. Rosa, weiß, gelb ganz selbstverständlich. Eine kleine Geste, schlicht und doch berührend.
In Mexiko dagegen spielt ihre orangefarbene Cousine, die Cempasúchil (Studentenblume), eine besondere Rolle. Zum Día de los Muertos (1. bis 2. November) streut man Blütenblätter zu Wegen, die von den Friedhöfen zu den Familienaltären führen, als Einladung an die Seelen der Verstorbenen.
Die Atmosphäre könnte kaum unterschiedlicher sein als in Frankreich.
Der Día de los Muertos ist ein Fest, fröhlich, farbig, laut.
Die Lebenden feiern mit den Toten, errichten Altäre, bedecken sie mit orangefarbenen Blüten, Kerzen, Fotos, Lieblingsspeisen. Es wird gegessen, getrunken, gelacht. Musik erfüllt die Straßen, und überall wird getanzt.
Diese Blumen sprechen nicht vom Tod.
Sie flüstern: „Willkommen. Komm zurück zu uns.“
Der Reichtum der Chrysantheme
Weil man sie nur im Herbst sieht, vergisst man ihre Vielfalt. Dabei gibt es Hunderte von Sorten:
- Pompons (rund, dicht, perfekt)
- Spinnen (feine, grafische Blütenblätter)
- Margeriten (gelbe Mitte, einfache Blütenblätter)
- Anemonen (gewölbtes Zentrum, kurze Blütenblätter)
- Kaskaden (hängend wie ein Blumenvorhang)
Ihre Farben reichen von Weiß bis Bordeaux, von Bronze bis Hellgrün. Ihre Formen inspirieren Maler und Juweliere: Monet, Lalique, Fouquet, die Handwerker von Giverny und Limoges.
Die Chrysantheme ist keine banale Blume.
Der sich verändernde Blick
Dieses Wochenende habe ich meine Cousine nach Lahr mitgenommen. Als ich es ihr vorschlug, zögerte sie: „Chrysanthemen? Im Ernst? Das sind Friedhofsblumen!"
Aber die Neugier siegte. Wir verbrachten den Tag zwischen Blumenkaskaden und Pflanzenskulpturen. Sie fotografierte, beobachtete, berührte die Blütenblätter der Spinnen-Sorten, bewunderte die perfekten Pompons.
Beim Weggehen sagte sie mir: „Es war wunderschön. Du hast gut daran getan, mich hierher mitzunehmen." Dann, lächelnd: „Aber in meinem Brautstrauß? Nein, doch nicht!"
Und das ist völlig in Ordnung. Ich versuche nicht zu überzeugen. Ich möchte nur den Blick öffnen.
Denn eine ungeliebte Blume muss nicht angebetet werden. Sie braucht nur die Freiheit, anders zu existieren.
Von Email, das die Vergessenen wiederbelebt
Ich habe mit den Vergissmeinnicht begonnen. Diese kleinen blauen oder rosa Blumen, die niemand ablehnt, aber die auch niemand mehr wirklich bemerkt. Handgemalt mit Email auf Kupfer und im Ofen gebrannt, mit ihrem schwarzen lackierten Hintergrund, der sie wie Sterne hervorhebt, finden sie ein zweites Leben.
„Vergiss mich nicht“ ist nicht mehr nur ein botanischer Name. Es ist ein Versprechen, das man bei sich trägt. Eine Erinnerung, eine Person, ein Moment, den man kostbar bewahrt.
Die Chrysantheme wird vielleicht die nächste sein. Denn eine ungeliebte Blume verdient es genauso wie eine vergessene Blume, anders zu glänzen.
Diese Vergissmeinnicht-Kollektion ist im Atelier zu sehen und demnächst im Januar 2026 bei der Ausstellung des CKI (Creativ-Kreis-International) im Präsidium der Regierung Karlsruhe.

Mein Blick als Gestalterin
Als deutsch-französische Gestalterin beobachte ich Blumen, um zu verstehen, was sie erzählen. Die Chrysantheme hat mir beigebracht, dass das, was wir "natürlich“ nennen, oft einfach nur "gewohnt“ ist.
Keine Blume ist wirklich ungeliebt. Sie wartet nur darauf, anders betrachtet zu werden.
Und du, würdest du Schmuck tragen, der von einer ungeliebten Blume inspiriert ist?


